Sprichwörter und Redensarten

Was genau ist ein Sprichwort? Miguel de Cervantes (1547-1616) liefert eine einfache und präzise Antwort auf diese Frage: „Ein Sprichwort ist ein kurzer Satz, der sich auf lange Erfahrung gründet“. In so ziemlich allen Sprachen finden sich Sprichwörter, die prägnant lebensweltliche Inhalte des Alltags bezeichnen und erklären. Gerade die europäischen Sprachen verfügen „[…] über einen gemeinsamen Sprich- und Redensartenschatz, basierend auf gemeinsamer Kultur, Geschichte, Religion sowie Sprachverwandtschaften und gegenseitigen Einflüssen“, schreibt Franziska Baum 2005 in ihrer Bachelorarbeit „Europäische Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten“ an der Katholischen Hochschule Eichstätt-Ingolstadt. Das soll aber nicht heißen, dass Sprichwörter in europäischen Sprachen identisch sind, es handelt sich mehr um >Multiplex unitas< (Edgar Morin), also Vielfalt in der Einheit. Was genau das bedeutet sollen die folgenden Beispiele vorführen.

 

Eulen nach Athen oder was?

Das Sprichwort „Eulen nach Athen tragen“ taucht erstmals in der satirischen Komödie Ορνιθες („Die Vögel“) des griechischen Komödiendichters Aristophanes (um 445 bis 386 v.Z.) auf, der sich über seine Heimatstadt Athen lustig machte: Eine Eule fliegt herbei, und es wird gefragt: „Τις λαυκ Αθήναζ ήγαγε“, „Wer hat die Eule nach Athen gebracht“, wo es denn dort schon so viele gibt. Dieses Sprachbild ist über die Römer „ululas Athenas“ auch ins Deutsche und in einige wenige andere Sprachen kulturell übertragen worden:

Niederländisch: „uilen naar Athene dragen“.

Schwedisch: „bära ugglar till Aten“.

Die dahinterstehende Bedeutung dieser Redensart findet sich auch in weiteren europäischen Sprachen wieder, allerdings werden andere Bilder zur Veranschaulichung verwendet:

Albanisch: „rreh ujë në havan“, d.h. ins Deutsche übersetzt: Wasser im Mörser schlagen.

Dänisch: „give bagerbørn hvedebrød“, d.h. dem Bäckerkind Weißbrot geben.

Englisch: „carry coals to Newcastle“, d.h. Kohle nach Newcastle bringen (früher wurde in Newcastle viel Kohle abgebaut).

Französisch: „porter du bois à la forêt“, also Holz in den Wald bringen.

Italienisch: „portare acqua al mare”, also Wasser ins Meer bringen.

Norwegisch: „gå over beeken etter vann“, also über einen Bach zum Wasser gehen.

Spanisch und Portugiesisch: „vender miel al colmenero“ bzw. „vender mel ao colmeeiro“, also dem Imker Honig verkaufen.

Türkisch: „“tereciye tere satmak“, also dem Kresseverkäufer Kresse verkaufen.

Quellen:

Baum, Franziska 2005: Europäische Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten. Bachelorarbeit. Katholische Hochschule Eichstätt-Ingolstadt, S.12

Röhrich, Lutz 1991: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Band I, Freiburg im Breisgau. S. 404f

 

Eier oder Erbsen oder Wassertropfen

Im Deutschen kennen wir die Redensart „sich gleichen wie ein Ei dem anderen“.

In vielen europäischen Sprachen gibt es andere Sinnbilder, die das gleiche ausdrücken:

Englisch: „to be as like as two peas”, also sich so ähnlich sein wie zwei Erbsen.

In den nachfolgend aufgezählten Sprachen sind es die zwei Wassertropfen, die sich ähneln:

Französisch: „se ressembler comme deux gouttes d’eau“.

Italienisch: „assomigliarsi come due gocce d’acqua”.

Niederländisch: „als twee druppels water op elkar lijken“.

Portugiesisch: „ser tal qual como duas gotas de água“.

Spanisch: „se parecen como dos gotas de agua“.

 

Auf großem Fuß leben

Im Deutschen kennen wir die Redewendung „auf großem Fuß leben“. In anderen europäischen Sprachen gibt es folgende Redewendungen:

Englisch: „to live the high life“, also das hohe Leben leben.

Französisch: „mener grand train“, d.h. „den großen Zug führen“.

Italienisch: „fare una vita da gran signore“, d.h. das Leben eines großen Herrn führen / machen.

 

Im Gänsemarsch

Da Gänse oft in einer Reihe hinter einander gehen, hat sich der Begriff des Gänsemarsches im 19. Jahrhundert in der deutschen Sprache eingebürgert. So heißt es im Grimmschen Wörterbuch (Grimm 1991, Band 4, S. 1273):

„im scherze machen denn auch junge leute gänsemarsch, und so ist das wort in den 30er Jahren in gang gekommen, vielleicht durch die studenten in leipzig, wo denn ehrsamer bürger damit geärgert wurden, indem man einen zum unfreiwilligen führer des marsches nahm“.

Die Spanier und Portugiesen, die nach der Wiederentdeckung Amerikas 1492 Mittel- und Südamerika, d.h. Lateinamerika eroberten, nahmen die indigene Bevölkerung als Ausgangspunkt, daher heißt ‚im Gänsemarsch‘ auf Spanisch in fila india, por em fila indiana, und amerikanisches Englisch Indian file, aber auch Italienisch in fila indiana.

 

Mit seinem Latein am Ende sein

Wenn jemand mit seinem Latein am Ende ist, dann heißt das, dass er nicht mehr weiter weiß, d.h. sich keinen Rat mehr weiß. Latein war im katholisch geprägten Mittelalter die Sprache der Wissenschaft; an Universitäten wurde ausschließlich auf Latein gelehrt.

Nichtsdestotrotz lebt der Inhalt des Sprichwortes in manchen Sprachen auf andere Art weiter:

Der Italiener sagt zum Beispiel non sapere più che pesci pigliare ‚nicht mehr wissen, welche Fische man fangen soll’.

Die Portugiesen sagen chegar ao fim da sua ciência ‚an das Ende seiner Wissenschaft kommen’.

Und die Türken sagen hoşafinin yağı kesilmek ‚das Fett der Kaltschale (des Kompotts) wird ranzig’.