Sprachen-Bilder

Schrift – Bilder – Sprache –

In-Schriften

2004/5 gab es im Haus am Waldsee in Berlin-Zehlendorf eine Ausstellung zu Walter Benjamin – zu einem Berliner, einem großen und einflussreichen Philosophen und Sprach-, Medien- und Kunsttheoretiker deutscher Sprache.

Walter Benjamin wurde am 15. Juli 1892 in Berlin geboren und ging in Charlottenburg zur Schule. Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nimmt er sich am 26. September 1940 in Port Bou das Leben. Sein Werk wird in Berlin vom „Walter Benjamin Archiv“ (walterbenajminarchiv@adk.de) der Akademie der Künste betreut (www.adk.de). Von dort aus organisierte Dr. Gudrun Schwarz vom 18. – 20. September 2013 eine vorzüglich gelungene internationale Konferenz unter dem Titel „Benjamin Lektüren. Zur internationalen Rezeption“, die in der Akademie der Künste im Berliner Tiergarten stattfand. Walter Benjamins Werk, übersetzt in Sprachen der Welt, wurde eindrucksvoll vorgestellt (diese Länder waren vertreten: Korea, Türkei, Iran, Japan, China, Argentinien, Brasilien, Mexiko, Ägypten). Und es wurde der innovative Sprach-Theoretiker und -Philosoph und Übersetzer Walter Benjamin sichtbar gemacht in seiner internationalen Bedeutung für Sprache, Übersetzung, Kunst, Literatur u. ä. So schrieb er z. B. „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, zum „Problem der Sprachsoziologie“, über „Die Aufgabe des Übersetzers“, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, „Über einige Motive bei Baudelaire“, „Zum Bilde Prousts“, „Der Erzähler“, „Brechts Dreigroschenroman“, „Kleine Geschichte der Photographie“.

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Foto: Ulrike Erhard, Berlin

Der Titel der Ausstellung von 2004/5 im Haus am Waldsee lautete „Walter Benjamin und die Künste der Gegenwart“.

Ihr Untertitel war: „Schrift. Bilder. Denken“.

Die drei Begriffe „Schrift“, „Bilder“ und „Denken“ kann ich mit Bezug auf Walter Benjamin unterschiedlich betonen und verbinden:

Etwa: Schriftbilder denken …

Bilderdenken

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Foto: Ulrike Erhard, Berlin

Walter Benjamin sprach in einem anderen Zusammenhang ganz plastisch von „Denkbildern“.

Benjamin hat für die Entfaltung einer Kunstphilosophie sehr Eigensinniges geleistet, das noch heute gültig ist und das noch immer nicht ganz erschlossen ist.

Schon sehr früh verstand Walter Benjamin Kunstwerke als eine Übersetzung der Sprache der Dinge in eine unendlich viel höhere, andere, entfaltete Sprache.

Und diese neue Sprache kommt nach Benjamin – auch – aus dem künstlerischen Material,

aus dem künstlerisch verwendeten Alltagsmaterial

und wird dann ihrerseits verfremdetes, neu konstruiertes, neu montiertes Sprach-Material.

Solch neue Sprache, solche Chiffren, Zeichen, müssten wir (zwar) allemal, erst einmal, lernen – wie jede neue Sprache. Das ist sowieso eine Aufgabe in unserer globalen Kultur.

Und mit jedem Kunstwerk müssen wir wieder neu lernen, neu wahrnehmen.

Altes Verstehen und Verständnis muss verlernt werden. Erfahrungen älterer Art müssen wir hinter uns lassen können.

Erfahrungsarmut als Chance nutzend.

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Foto: Ulrike Erhard, Berlin

Ver-Lernprozesse als etwas Produktives ansehen (wie Bertolt Brecht empfahl), um frei für Neues zu werden:

Durch Offenheit, durch Sinnlichkeit zu neuem Sinn kommen – das wäre zu leisten.

Unsicherheit, Ver-Unsicherung gehen in solchem ästhetischen Denken vor Eindeutigkeit, vor verordneten Wahrnehmungsrastern.

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Foto: Ulrike Erhard, Berlin

Also – unser Umgang mit Bildern oder Fotos, mit Kunst schlechthin – sei es als BetrachterIn oder als produktive KünstlerIn – ist ein Finden neuer Sprache(n), ein Sprach(er)findungs- und – Gestaltungskurs für das, was uns umgibt und was sein könnte und sich vorsichtig andeutet.

Auch – und vielleicht gerade – für das, was noch nicht ist, gibt uns Kunst eine Sprache, und zwar eine solche, die nicht nach einer Grammatik der Normierung gestaltet ist,

sondern den theoretischen Gestus der Selbstreflexion

zur Wirklichkeitserschließung und zur Benennung des Vor-Scheins nutzt.

Damit wird Kunst selbst zu einer Philosophie oder auch zu einer Art Theorie ohneBegriffe,

aber mit neuen Möglichkeiten des Begreifens, also des erkennenden Aktivseins.

Bilder sind eine Einladung zu einem solchen Sprachkurs, zu einem Sprachefinden in der Welt und mit der Welt der Kunstwerke:

Bilder sind Beiträge zum Verständnis der Welt, der Kulturen und gerade dem, was zwischen den Kulturen liegt und geschieht.

Sie bestechen durch farbige Fragen und Mehrdeutigkeit.

Sie beteiligen sich am polyglotten, also mehrsprachigen Diskurs mit der Kraft ihrer bildlichen Erzählweisen.

Walter Benjamin war auch ein Sammler (von Kinderspielzeug etwa);

er war ein Flaneur in Berlin und anderswo (vgl. sein Buch „Einbahnstraße“ von 1928; er schrieb 1932 an seiner „Berliner Chronik“ und an „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“);

er hat Kindern im Rundfunk von ‚nebensächlichen’ Dingen wie Karussells, Geistern und – Philosophie erzählt, aber auch über den „Berliner Dialekt“, über „Straßenhandel und Markt in Alt- und in Neuberlin“, „Berliner Puppentheater“, „Das dämonische Berlin“, einen „Berliner Straßenjungen“, über „Berliner Spielzeugwanderung“, „Borsig“, „Die Mietskaserne“

das alles war ungewöhnlich und neu in den 1920er/1930er Jahren.

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Foto: Ulrike Erhard, Berlin

Ihm war das Nebenbei,

das, was man so links liegen lässt,

was wenig beachtet wird, nicht unwichtig;

denn immerhin könnte da etwas sein, was doch Bedeutung hat, was Bedeutung bekommen kann, was einmal Bedeutung hatte, was aber in den aktuellen mainstream nicht – mehr recht zu passen scheint –

aber wer weiß, vielleicht hat es doch noch … oder mal wieder … einen (neuen) Sinn …?!

Benjamin verstand sich und manch andere Autoren / Künstler deshalb in einem neuen, positiven Verständnis als „Lumpensammler“, als „Kehrichtsammler der Tatsachenwelt“, der etwa „Redelumpen und Sprachfetzen“ aufsammelt, würdigt und Abfall aufliest, um ihn und seine beschädigte Geschichte zu retten, um sie in neuen Zusammenhängen, mit anderen fremden Lumpen zusammenzufügen …

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Foto: Ulrike Erhard, Berlin

Eine Kontrastmontage entsteht so, die das Kleine, das Banale, das Fremde, das wenig gewürdigt wird, erinnert, tendenzmächtig macht.

Und:

Es sollte in der Kunst nicht kaschiert, geschönt, verdeckt werden, dass hier der Künstler / die Künstlerin eigen-sinnig / eigen-sinnlich etwas

(Vor-)Gefundenes zusammenfügt, etwas konstruiert, das zu etwas führt, was es so noch nicht gab:

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Foto: Ulrike Erhard, Berlin

Eine neue Erscheinungsform;

ein neuer Blick;

ein Arbeitsprodukt entsteht nach einem Prozess des Findens, des Neuformens und Einbringens,

so dass das Werk vom Gewohnten abweicht und nun durch aktive Rezeption der Betrachtenden wiederum ein neuer Erkenntnisvorgang sinnlicher Art in Gang gesetzt werden kann:

Alles das ist übrigens – auch – ein Theorie-Vorgang; denn das Wort Theorie erinnert / sollte erinnern an Anschauung [siehe teatrum = Schauplatz; teatrum mundi = Schauplatz (der) Welt, Welt als Schauplatz].

Ausstellungen, Galerien sind Schauplätze von Bildern, für Bilder … Sie sind zudem denkbar gut geeignet, visuelle, ästhetische, anschauliche, anschauende Kultivierungs-Prozesse zu ermöglichen.

Bilder erwarten – zurecht – ein Stück weit Konzentration, Zeit und Muße vom Betrachtenden.

Attraktionen, um dranzubleiben, sind die einzelnen Gegenstände, die Fundsachen, die Zwischenräume und Zwischentöne und In-Schriften, die ein Bild vereinigt.

Der Betrachter ist nun seinerseits gefordert, ein Umgruppieren, Neugruppieren seiner Wahrnehmungen vorzunehmen, indem er sich auf die Betrachtung des Bildes einlässt.

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Foto: Ulrike Erhard, Berlin

Zuschauer werden als Mitproduzenten der Bilder gedacht.

Ich nehme mir das Recht – und mache mir sogar das Vergnügen – , mich in den Irrgarten von Bildern zu wagen, mich einzuschleichen.

Ich werde also – pathetisch gesagt – als sinnlich-gedanklicher Mitproduzent, als Vollender des Bildes sogar gebraucht – und das ehrt mich, das ehrt uns.

Bilder, Kunstwerke, Fotos, In-Schriften in Straßen, an Häusern bieten

Weltergänzungen,

Zwischenberichte,

Lesarten der Welt;

aber auch Irritationen, Verschlüsselungen.

Wir können auf Entdeckungsreisen gehen.

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Sprachen-Bilder-Fetzen aus Berlin-Wedding

fotografiert von Ulrike Erhard

August 2013

Gedanken-Splitter von

Prof. Dr. Gerd Koch

Oktober 2013